In der Personalbeurteilung üblich: Wahrnehmungsverzerrungen

Es ist uns allen schon passiert: Wir sind von Dritten beurteilt worden. Im Vorfeld einer Beförderung (Promotion) zum Beispiel, im Rahmen eines Bewerbungs- oder eines Jahresendgesprächs, bei einem Vorgesetztenwechsel, nach Ablauf der Probezeit oder bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei unserem letzten Arbeitgeber. Doch waren wir mit den Beurteilungsergebnissen auch immer einverstanden? Waren die Beurteilungen gerecht? Warum waren sich die Beurteilenden in ihrer Bewertung nicht immer einig?

Die Rede ist von Wahrnehmungsverzerrungen (auch als Wahrnehmungsfehler bezeichnet)! Und diese können fatale Auswirkungen haben: Keine Beförderung, obwohl diese schon längst fällig war, aber mein Vorgesetzter schon immer Männer bevorzugte. Eine fehlgeschlagene Bewerbung, weil der Beurteilende seine selektive Wahrnehmung nicht ausschalten konnte. Oder eine nicht verlängerte Probezeit, weil eine klitzekleine negative Erfahrung alles andere überstrahlt hat.

Müssen wir mit Berurteilungsfehlern leben?

Es ist eine Tatsache, dass die Beurteilenden – trotz einheitlich vorgegebener Kriterien – nicht immer zu den gleichen Ergebnissen kommen. Und das bei teilweise existenziellen oder zumindest wegweisenden Auswirkungen! Warum ist das so? Müssen wir mit solchen Fehlurteilen leben oder lassen sie sich vermeiden oder doch zumindest eindämmen? Was sind die Ursachen solcher Abweichungen?

Jeder Beurteilende unterliegt einer Reihe von subjektiven Einflüssen, die dazu führen, bestimmte Aspekte stärker oder verfremdet zu sehen und andere eher auszublenden. Diese Wahrnehmungsverzerrungen werden durch Einflüsse, die sich unmittelbar auf den Beurteilenden zurückführen lassen oder die in der Beziehung zwischen den Beteiligten der Personalbeur­teilung begründet sind.

Kommen wir zunächst zu den Einflussfaktoren, die unmittelbar auf den Beurteilenden zurückführen bzw. in dessen Persönlichkeitsstruktur begründet sind.

Einflussfaktoren, die in uns selber liegen

Hierzu zählt zunächst die selektive Wahrnehmung, bei der der Betreffende aus einer Viel­zahl von Informationen nur einen kleinen Ausschnitt bewusst oder unbewusst auswählt und diesen zur Grundlage seines Urteils macht.

Vorurteile und Vermutungen beruhen auf positiven oder negativen Erfahrungen, die der Beurteilende mit ähnlichen Personen gemacht hat. Sie überdecken die tatsächlichen Fakten und Zusammenhänge.

Der Hierarchieeffekt liegt dann vor, wenn die Beurteilung umso besser ausfällt, je höher die hierarchische Position des Beurteilten ist.

Beurteilende können durch die Projektion ihres persönlichen Wertesystems zu einer Fehl­einschätzung gelangen. In diesem Fall übertragen sie Vorstellungen und Erwartungen, die sie bei sich selbst wahrnehmen, unreflektiert auf andere.

Zu dieser Art von Wahrnehmungsverzerrungen zählen schließlich noch Tendenzfehler, die aus den unter­schiedlichen Beurteilungsgewohnheiten des Beurteilenden resultieren. Bei der Tendenz zur Milde (Milde-Effekt) neigt der Beurteilende dazu, generell keine negativen Aussagen über die Beurteilten zu machen. Der Milde-Effekt tritt empirischen Untersuchungen zur Folge dann verstärkt auf, wenn die Beurteilung für Beförderungs­zwecke durchgeführt wird. Im Gegensatz dazu steht die Tendenz zur Strenge (Strenge-Effekt), bei der der Beurtei­lende aufgrund seines sehr hohen individuellen Anspruchsniveaus gute oder sehr gute Leistungen als normal ansieht. Eine Tendenz zur Mitte (Zentraltendenz) liegt dann vor, wenn bei der Beurteilung einer Person positive und negative Extremurteile vermieden werden. Der vorsichtige Beurteilende nimmt eine Maßstabsverschiebung derart vor, dass er überproportional häufig mittlere Urteilswerte über seine Mitarbeiter abgibt.

Einflussfaktoren, die in unserer Beziehung zur beurteilten Person liegen

Kommen wir zur zweiten Kategorie der Wahrnehmungsverzerrungen, die in der Beziehung zwischen den Beteiligten der Personalbeur­teilung begründet sind. Diese Ein­flüsse machen sich zumeist als Sympathie oder Antipathie bemerkbar machen.

Bedeutsam ist der so genannte Halo- oder Überstrahlungseffekt, bei dem die beurteilende Person von einer prägnanten Eigenschaft bzw. einem spezifischen Verhalten auf andere Merkmale des Beurteilten schließt. Beispiel: Stellen Sie sich eine Person mit auffallend guten Umgangsformen vor. Wer sich so benimmt – so schließen wir – muss einfach ein guter und sympathischer Mensch sein. Muss er aber gar nicht …

Der Kontakt-Effekt besagt, dass die Beurteilung eines Mitarbeiters umso besser ausfällt, je häufiger er Kontakt mit dem Beurteilenden hat.

Der Recency-Effekt drückt aus, dass der Beurteilende bei der Bewertung speziell auf Ereig­nisse, die erst kürzlich stattgefunden haben, abzielt.

Der First-Impression-Effekt drückt aus, dass die in einer Beurteilungsperiode zuerst erhal­tenen Informationen bzw. Eindrücke auf den Beurteilenden größere Wirkung erzielen als spä­ter erhaltene und von daher unbewusst bei der Bewertung übergewichtet werden.

Der Nikolaus-Effekt geht davon aus, dass der Beurteilte seine Leistung im Hinblick auf den Beurteilungszeitpunkt sukzessiv steigert.

Das Andorra-Phänomen, das nach dem Schauspiel von Max Frisch benannt ist, geht von einer gegenseitigen Einflussnahme dahingehend aus, dass der Beurteilte in die Rolle schlüpft, die sein Gegenüber (also der Beurteilende) von ihm erwartet.

Wahrnehmungsverzerrungen können vermieden werden

Wie lassen sich solche Wahrnehmungsfehler vermeiden? Es hat sich als hilfreich erwiesen, den Beurteilenden kurz vor einer Personalbeurteilung noch einmal die wichtigsten Einflussfaktoren vor Augen zu führen. Die betroffenen Personen werden diese Effekte in aller Regel reflektieren und bei der dann folgenden Beurteilung einordnen können. Dadurch lassen sich Beurteilungsfehler zwar nicht vollständig vermeiden, jedoch erheblich reduzieren. Grundsätzlich sollten aber alle Beurteilende über (Grund-)Kenntnisse und Erfahrungen in der Personalbeur­teilung verfügen.

Mehr dazu mit Beispielen und Grafiken in diesem Buch:

2 Kommentare

  1. Ich sehe den „Fehler“ nicht nur bei den Beurteilenden, denn es ist ein großer Unterschied, ob jemand Kompetenz besitzt und ob er oder sie diese auch sichtbar machen kann. Laut Jack Nasher sind Menschen miserabel darin, die Kompetenz anderer zu bewerten, weshalb sie ihr Urteil nicht auf Basis von Fakten, sondern von Eindrücken fällen (wie es auch in Ihrem Artikel zum Ausdruck kommt). Dies hat auch das Experiment der Washington Post mit dem Star Violinisten Joshua Bell gezeigt, der sonst vor ausverkauften Häusern auf seiner Stradivari spielt und dessen Talent in der Washingtoner U-Bahn von fast niemandem erkannt wurde. Wir müssen also nicht mit solchen Beurteilungsfehlern leben, sondern haben es ganz oft selbst in der Hand. Wie genau wir das anstellen bringt Jack Nasher in seinem neusten Buch „Überzeugt! Wie Sie Kompetenz zeigen und Menschen für sich gewinnen“ sehr gut auf den Punkt.

    • Liebe Denise, das ist ein sehr richtiger Hinweis. Bei der Beurteilung von Gemälden ist es ähnlich – wobei es manchmal auch in die andere Richtung gehen kann …

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