Wie gerecht sind unsere Gehaltssysteme?

Die Konzeption von Vergütungssystemen muss sowohl die Interessen der Mitarbeiter als auch die des Unternehmens berücksichtigen.  Das ist keine neue Erkenntnis. Wichtig, nein entscheidend bei solchen konzeptionellen Überlegungen ist allerdings, dass es ein Kriterium gibt, das als Grundvor­aussetzung für die Akzeptanz bei den Mitarbeitern gilt: Gerechtigkeit. Die „faire Vergütung im Vergleich zu Kollegen“ zählt zu den Top-Treibern der Mitarbeiterbindung (engl. Retention) und ist zweifellos der entscheidende Hygienefaktor aller Anreiz- und Vergütungssysteme.

Viele Mitarbeiter empfinden ihr Gehalt als gerecht. Andere Mitarbeiter dagegen stufen ihr monatliches Salär als ungerecht ein. Diese Empfindungen beruhen aber nicht auf einem Vergleich auf Basis der absoluten Gerechtigkeit, sondern auf Grundlage einer relativen Gerechtigkeit – nämlich im Vergleich zu den Kollegen, zum Branchendurchschnitt, zur Leistung, zum Alter oder auch zur Ausbildung. Wenn wir also im Zusammenhang mit Gehaltsfragen von Gerechtigkeit sprechen, dann unterstellen wir automatisch die relative Gerechtigkeit als Maßstab. Und auch nur die relative Gerechtigkeit provoziert Neid und Unbehagen. Bei der absoluten Gerechtigkeit halten wir es dagegen mit Boris Becker. Als junger Wimbledonsieger antwortete er im „Aktuellen Sportstudio“ auf die Frage, ob es ihn nicht nachdenklich mache, dass er mehr Geld verdiene als der Bundeskanzler: „Nein, der kann ja auch nicht so gut Tennis spielen wie ich“. (Obwohl nicht miteinander vergleichbar, war bzw. ist der Stellenwert vieler Sportarten in der Gesellschaft wohl deutlich höher als der der Politik.)

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Gerechtigkeitsprinzipien. Die verschiedenen Komponenten der Entgeltgerechtigkeit, wie Sozialgerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit, Marktgerechtigkeit, Bedarfsgerechtigkeit, Erfolgegerechtigkeit, Qualifikationsgerechtigkeit oder Anforderungsgerechtigkeit, werden auch als Gerechtigkeitsprinzipien bezeichnet. Angesichts dieser Vielzahl von nicht überschneidungsfreien Prinzipien ist es nahezu unmöglich, einen allgemein als gerecht empfundenen Maßstab für die Vergütungsdifferenzierung zu finden. Letztendlich sind es aber drei Kernprinzipien der Entgeltgerechtigkeit, die für die Zusammensetzung der Gehaltsstruktur maßgeblich sind:

  • Anforderungsgerechtigkeit (im Hinblick auf Qualität, Schwierigkeitsgrad oder Verantwortungsbereich des Jobs bzw. der jeweiligen Position, d.h. der Geschäftsführer sollte mehr verdienen als die Empfangsdame)
  • Marktgerechtigkeit (im Hinblick auf die Vergütungsstruktur der Branche bzw. des Wett­bewerbs)
  • Leistungsgerechtigkeit (im Hinblick auf die Leistung des Mitarbeiters/der Führungskraft einerseits und des Unternehmens andererseits).

Gerechtigkeitsdimensionen. Den Gerechtigkeitsprinzipien stehen sogenannte Gerechtigkeitsdimensionen gegenüber, die sich mit den konkreten Austauschbeziehungen zwischen Personen und Organisationen befassen. Die Unterscheidung zwischen „Prinzipien“ und „Dimensionen“ mag auf dem ersten Blick sehr akademisch daher kommen. Bei den Gerechtigkeitsdimensionen geht es aber um ganz wichtige Aspekte beim Austauschprozess „Gehalt“:

  • Interaktionale Gerechtigkeit ist die wahrgenommene Gerechtigkeit im zwischen­men­sch­lichen Umgang mit dem Austauschpartner (Beispiel: persönliches Überzeugen der Führungskraft vom gewählten Vergütungsmodell)
  • Prozedurale Gerechtigkeit ist die wahrgenommene Gerechtigkeit der Abläufe und Prak­tiken in einer Austauschbeziehung (Beispiel: Transparentmachen von Vergütungsstufen)
  • Distributive Gerechtigkeit ist die wahrgenommene Gerechtigkeit des materiellen Ergebnisses einer Austauschbeziehung (Beispiel: Festlegen der Gehaltsstruktur, Leisten von Bonuszahlungen bzw. Prämien)

Anforderungsgerechtigkeit und Karrierestufen. Der erste Schritt der Gehaltsfindung bezieht sich auf die Anforderungsgerechtigkeit. Sie orientiert sich an den Anforderungen des Jobs bzw. der Position (Ausbildung, Erfahrung, Kompetenz, Ver­antwortung etc.). Aus diesem Grund haben viele Unternehmen ein Karrierestufen-Modell (engl. Grading System) aus Rollen und Kompetenzen entwickelt, das jeder Karrierestufe (engl. Grade) ein bestimmtes Zieleinkommen (100-Prozent-Gehalt) zuordnet. Das Grading-System dient einerseits der grundsätzlichen Einstufung des Mitarbeiters in Abhängigkeit vom Anforderungsgrad seines Jobs (Position/Rolle) und andererseits zur Festlegung des (relativen) variablen Gehaltsbestandteils, d. h. je größer die Anforderung an die Position/Rolle und damit die Verantwortung des Mitarbeiters/der Führungskraft ist, desto höher kann auch der variable Gehaltsanteil sein.

Marktgerechtigkeit und Gehaltsbandbreiten. Der zweite Schritt der Gehaltsfindung bezieht sich auf die Marktgerechtigkeit. Hier geht es in erster Linie darum, das relative Vergütungsniveau im Vergleich zu anderen Unternehmen festzulegen. Es ist in erster Linie an der Vergütungsstruktur der Branche bzw. des Wettbewerbs sowie im internationalen Bereich zusätzlich an Kaufkraftkriterien ausgerichtet. Um grundsätzlich bei der Gewinnung und Bindung strategisch wichtiger Führungskräfte und Mitarbeiter entsprechend flexibel reagieren zu können, bietet sich die Gestaltung von Vergütungsbandbreiten an. Solche Bandbreiten sind in das unternehmensweite Grading-System eingebettet und eröffnen die Möglichkeit, jeden Mitarbeiter entsprechend bestimmter Merkmale (z. B. Alter, Erfahrung, Spezialkenntnisse) innerhalb einer Karrierestufe unterschiedlich zu vergüten.

Leistungsgerechtigkeit und variable Vergütung. Der dritte Schritt der Gehaltsfindung zielt auf die Leistungsgerechtigkeit ab. Dieses Gerechtigkeitsprinzip wird vorzugsweise durch die Gestaltung variabler Vergütungskomponenten realisiert. Als Bemessungsgrundlagen der variablen Vergütung können die individuellen Leistungen des Mitarbeiters und/oder die Leistungen des Unternehmens bzw. eines Unternehmensbereichs (kollektive Leistung) herangezogen werden.

Die individuelle Leistung kann am Zielerreichungsgrad, am Potenzialabgleich sowie im Mitarbeitervergleich (Kalibrierung) gemessen werden, wobei die Ergebnisse der Personalbeurteilung hierzu die Grundlage bilden. Besonders wichtig ist, dass die betroffenen Mitarbeiter ihre Leistungen direkt beeinflussen können und diese auch messbar sind. Dies hat in der Praxis dazu geführt, dass vorzugsweise im Vertrieb die individuelle Leistung (z. B. der erzielte Auftragseingang) als Bemessungsgrundlage für die variable Vergütung herangezogen wird. In Bereichen, in denen die Leistungen der Mitarbeiter und Führungskräfte nur begrenzt quantifiziert und nicht eindeutig zugeordnet werden können (z.B. in den zentralen Support-Bereichen), müssen quantifizierbare Hilfsgrößen herangezogen werden (z. B. die Fluktuationsrate zur Bemessung der Leistungen des Personalmanagements). Andernfalls kann die Einführung einer leistungsbezogenen variablen Vergütung in bestimmten Bereichen zu Umsetzungs- und Akzeptanzproblemen führen.

Bestimmungsgrund für die kollektive Leistung ist zumeist die Jahresperformance (Gewinn, Umsatz, Deckungsbeitrag o. Ä.) des Unternehmens bzw. relevanter Teilbereiche. Im Vergleich zur Messung der individuellen Leistung sind die Bestimmungsfaktoren der Unternehmensleistung i. d. R. deutlich einfacher zu quantifizieren.

Zusammensetzung der variablen Vergütung. In der Praxis haben sich im Wesentlichen drei Grundformen der Zusammensetzung der variablen Vergütungsbestandteile durchgesetzt .

  1. Der variable Anteil wird ausschließlich durch die Ergebnisse der individuellen Leistung bestimmt.
  2. Nur die Leistung des Unternehmens bzw. relevanter Unternehmensteile wird zur Bestimmung des variablen Anteils herangezogen.
  3. Es wird sowohl die individuelle Leistung als auch die Unternehmensperformance berück­sichtigt. Bei dieser Mischform gibt es zwei Varianten, die sich auf die Verknüpfung der beiden variablen Gehaltsanteile beziehen. In der einen Variante werden der individuelle Anteil (auch als individueller Faktor [IF] bezeichnet) und der Unternehmensanteil (auch als Unternehmens- oder Businessfaktor [BF] bezeichnet) addiert. Bei der zweiten Variante wird der individuelle Faktor mit dem Businessfaktor multiplikativ miteinander verknüpft, sodass unter bestimmten Umständen (z. B. bei vollständiger Schlechtleistung des Unternehmens oder des Mitarbeiters und damit BF=0 bzw. IF=0) kein variables Gehalt ausgezahlt wird.

Alle drei beschriebenen Varianten sollten eine Deckelung des variablen Anteils z.B. bei 200 Prozent vorsehen, d. h., selbst bei einer deutlichen Planübererfüllung des Unternehmens und des Mitarbeiters kann der auszuzahlende variable Anteil demnach das Zweifache seiner (100-Prozent-)Zielgröße nicht überschreiten. Auf diese Weise können exorbitant hohe Gehälter vermieden werden.

(Zusätzliche Informationen finden Sie in „Die Personalmarketing-Gleichung. Einführung in das wert- und prozessorientierte Personalmanagement“, 2. Aufl., De Gruyter Oldenbourg, München 2014 bei  https://www.degruyter.com/view/product/428456?format=G&rskey=QFLLol&result=2 sowie „Grundlagen der Unternehmensberatung. Strukturen – Konzepte – Methoden“, Springer Gabler, Wiesbaden 2016 und ist erhältlich bei http://www.springer.com/de/book/9783658128814)

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