Man könnte schnell mit dem Urteil bei der Hand sein und sagen, dass das zweistufige System berufsqualifizierender Studienabschlüsse (typischerweise in der Form von Bachelor und Master) gescheitert sei, denn die Zerschlagung des auch international anerkannten deutschen Bildungssystems hat zu einer Verschulung auf breiter Front und zur Abkoppelung der Lehre von der aktuellen Forschung geführt. Genauso verkürzt lässt sich aber auch feststellen, dass es dank der Bologna-Reform möglich ist, die Hochschule auch grenzüberschreitend und ohne zeitliche Verluste zu wechseln und europaweit nach einheitlichen Standards zu studieren. Die Aufzählung von Defiziten und Erfolgen, die sich beliebig fortsetzen ließe, soll an dieser Stelle aber nicht weiter verfolgt werden. Stattdessen wird hier eine Einschätzung darüber vorgenommen, wer die Gewinner und wer die Verlierer bzw. die Leidtragenden der Reform sind.
Die Verlierer:
Da sind zunächst einmal die Unternehmen, die anfangs besonders laut geschrien haben, denn ihnen lag daran, dass Hochschulabsolventen jünger werden. Deshalb war eines der Ziele der Bologna-Reform, die Studienzeit zu verkürzen und damit die Studierenden schneller für den Arbeitsmarkt fit zu machen. So sollte bereits der Bachelor (und nicht erst der Master) direkt in den Arbeitsprozess aufgenommen werden. Heute stellt die Wirtschaft fest, dass Bachelor-Absolventen nach zwölf Jahren Schule und dem Wegfall der Bundeswehrzeit wohl doch noch zu jung sind. Das Ergebnis: Die Personalabteilungen stellen ihre Rekrutierungspolitik auf Master um, was natürlich genau kontraproduktiv zur ursprünglichen Intension der Reform ist. Doch eigentlich sind die Unternehmen gar keine Verlierer, denn durch die Anpassung ihrer Rekrutierungsstrategie bekommen sie für die gleiche Stelle, die ursprünglich für den Bachelor vorgesehen war, nun einen Master mit besserer Ausbildung.
Als echter Verlierer sieht sich das Lehrpersonal an Universitäten (Dozenten, Lehrbeauftragte, Professoren). Da die Hochschulen auf die Reform gar nicht oder nur sehr schlecht vorbereitet waren, kamen auf die Lehrstuhlinhaber ein höherer Arbeitsaufwand und verschulte Studiengänge zu. Für die Lehrenden bedeutet die Bachelor-Master-Struktur vor allem Bürokratie und Prüflingsbetreuung statt Wissenschaft und Forschung. Sie fühlen sich in ihrer akademischen Freiheit eingeschränkt. Auch hat der Druck zugenommen, Drittmittel einzuwerben, also zusätzliches Forschungsgeld von Stiftungen oder Förderorganisationen. Wirklich hart ist die Lage aber für den wissenschaftlichen Nachwuchs in Gestalt der Junior-Professoren. Sie hangeln sich von einem befristeten Vertrag zum nächsten – zumeist ohne verlässliche Perspektive im Hochschulsystem.
Hauptleidtragende zwischen starren Modulplänen, ausufernden Prüfungsleistungen, gefrusteten Professoren und unrealistischen Workload-Annahmen sind die Bachelor-Studierenden. Sie sollen ins Ausland gehen, finden im Lehrplan aber keinen Platz dafür. Sie sollen Persönlichkeiten statt nur Absolventen sein. Besonders hinderlich sind die sich anhaltend verschlechternde Betreuungsrelation von Studierenden zu Professoren und die geringe Verzahnung von Theorie und Praxis. Die angehende Bachelor hört sich durch vorgegebene Einführungsvorlesungen – und muss durch Anwesenheit glänzen, auch wenn das Thema nicht interessiert. In einigen Studiengängen ist der Bachelor sogar gänzlich wertlos: Lehramtsstudierende brauchen den Master, um ein Referendariat anschließen zu können. Psychologie-Absolventen haben mit dem Bachelor einen Abschluss, können sich aber nicht Psychologen nennen.
Besonders hart trifft es dann den fertigen Bachelor, der – siehe oben – zunehmend gezwungen ist, nun auch noch den Master obendrauf zu satteln. So kommt es, dass weit mehr als die Hälfte der Bachelor-Absolventen einen Master machen möchte (bzw. machen muss). Ursprünglich war gedacht, dass nur die besten 10 bis 20 Prozent der Bachelor-Absolventen auch ein Masterstudium absolvieren. Dies sollte entweder direkt nach dem Bachelor (“konsekutiv”) oder später im Berufsleben (zum Beispiel berufsbegleitend, “exekutiv”) möglich sein. Gleichzeitig fehlt es aber an genügend Masterstudienplätzen – gerade im universitären Bereich. Da bei weitem nicht jeder Bachelor-Absolvent einen Master-Platz bekommt, stehen viele nach dem ersten Abschluss vor einer akademischen Zwangspause. Und die kann neben akademischem Frust auch schnell zu existentiellen Problemen führen: Ohne Studienplatz verlieren die Ex-Studierenden ihren Bafög-Anspruch. Der Hiwi-Job fällt weg, ein deutlich höherer Beitrag für die Krankenversicherung muss selbst getragen werden.
Zu den Verlierern zählt schließlich – zumindest in Teilen – die Gesellschaft. „Der Boom bei den Studentenzahlen geht zulasten der dualen Berufsausbildung. Wir leiden an einer Überakademisierung“, so der DIHK-Präsident Eric Schweitzer. Innerhalb von nur sechs Jahren ist der Anteil der Studienanfänger in Deutschland von 36 auf 58 Prozent gestiegen. Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg, geht noch einen Schritt weiter, in dem er feststellt, dass die Bologna-Reform mit ihrer „unbedingten Forderung nach ‚Beschäftigungsfähigkeit‘ der Hochschulabsolventen (…) eine fast vollständige Transformation des universitären Auftrags nach sich gezogen (hat): weg von der ‚allgemeinen Menschenbildung durch Wissenschaft‘, hin zur Berufsausbildung.“
Kommen wir zu den Gewinnern der Bologna-Reform.
Besonders positiv betroffen sind die international ausgerichteten Studierenden, denen Bologna den Weg ins Ausland deutlich erleichtert hat. Mittlerweile studieren knapp 140.000 Deutsche an ausländischen Hochschulen – fast dreimal so viel wie zu Zeiten des Diplom-Abschlusses. Damit zählen die deutschen Studierenden zu den mobilsten weltweit. Auch mit den im Ausland gesammelten Punkten (Credits) und Leistungsnachweisen gibt es deutlich weniger Probleme als früher. Bachelor und Master müssen auch nicht im selben Fach absolviert werden. Das ermöglicht die Erweiterung des eigenen Wissens und macht Studierende für den (nicht nur) internationalen Arbeitsmarkt interessanter. Bachelor und Master müssen auch nicht unmittelbar aufeinander folgen. Die Pause kann für den Einstieg ins Berufsleben genutzt und für erste Berufserfahrung gesammelt werden, ohne das Studium zu unterbrechen.
Gestiegen ist auch die Zahl ausländischer Studierenden in Deutschland, die ebenfalls zu den Gewinnern der Bologna-Reform zählen. Inzwischen studieren mehr als 300.000 junge Ausländer in Deutschland. Das sind 11,5 Prozent aller Studierenden. Der Anteil hat sich damit in den letzten 20 Jahren verdoppelt und ist stärker gestiegen als die Zahl der Studierenden in Deutschland insgesamt. Deutschland wird als Studienziel also immer beliebter. Laut OECD-Statistik studieren nur in den USA und Großbritannien mehr ausländische Gaststudenten.
Insbesondere der Mangel an Bachelor- und vor allem Masterstudienplätzen hat eine weitere Gruppe von Reform-Gewinnern auf den Plan gerufen: die privaten Bildungsanbieter. Inzwischen existieren in Deutschland 125 private Hochschulen, an denen 160.000 Studierende eingeschrieben sind. Angesichts der unzureichende Vorbereitung und Ressourcenausstattung der öffentlichen Hochschulen im Hinblick auf den Bologna-Prozess zeigten sich die privaten Anbieter aufgrund ihrer Kostenstruktur von vornherein deutlich wendiger, so dass sie sich auf dem Bildungsmarkt sehr schnell zu einer leistungsfähigen Alternative entwickelten. Private Hochschulen konzentrieren sich in aller Regel auf geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer. Sie sind grundsätzlich weniger forschungs- und damit weniger kostenintensiv. Nicht zuletzt dank der privaten Hochschulen hat der Bologna-Prozess innerhalb weniger Jahre eine enorme Vielfalt an Bachelor- und Masterstudiengängen hervorgebracht. Um hierbei eine dringend notwendige Qualitätssicherung zu gewährleisten, erhielten Akkreditierungsverfahren für Hochschulen und Studiengänge eine besondere Bedeutung.
Damit sind wir letztendlich bei einem der größten Nutznießer und Reform-Gewinner: den Akkreditierungsagenturen. Diese außeruniversitären Instanzen haben die Aufgabe, einem möglichen Niveauverlust durch entsprechende Akkreditierungen vorzubeugen. Dazu prüfen sie, ob die Kriterien für die Zulassung von Studiengängen eingehalten werden. Speziell das von den Reorganisationsmaßnahmen umfassend betroffene deutsche Hochschulwesen sollte damit neu geordnet werden. Die Akkreditierungsagenturen werden von der Humboldt-Gesellschaft allerdings als überflüssig angesehen, da die fachgebundenen Aufgaben ihrer Auffassung nach in die Verantwortung der Fakultäten gehörten. Es handle sich um ein „bürokratisches Monster“, das die Hochschulhaushalte mit mehreren hundert Millionen Euro pro Jahr belaste. Zu einer möglichen Vereinfachung der Akkreditierungsprozedur kann es künftig dadurch kommen, dass die Programmakkreditierung – also der Akkreditierung einzelner Studiengänge – durch die Möglichkeit einer Systemakkreditierung entfallen kann. Dabei wird die Qualitätssicherung für angebotene Studiengänge an einzelne Hochschulen rückübertragen, nachdem eine Akkreditierungsagentur die diesbezügliche Eignung der betreffenden Einrichtung attestiert hat. Als Prüfkriterium setzt der Akkreditierungsrat dafür ein hochschulweites Qualitätssicherungssystem in Verbindung mit dem Nachweis an, dass mindestens ein Studiengang dieses System bereits durchlaufen hat.
Fazit: Den Stab über die Bologna-Reform zu brechen, wäre ebenso falsch, wie die euphorischen Darstellungen und Lobhudeleien der Regierung, nach der die Bologna-Reform gut vorangekommen ist. Angesagt ist vielmehr eine Reform der mehr als 15 Jahre alten Reform, in der man vor allem die beiden Ziele, also den europäischen Hochschulraum und besonders den früheren Berufseinstieg noch einmal auf den Prüfstand stellt. Schließlich kann die Bologna-Reform nichts dafür, dass die Personalabteilungen keinen Bachelor mehr wollen, wenn sie dafür auch einen Master bekommen. Hier liegt wohl eher ein Kommunikationsproblem vor.
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