Leider immer noch übliche Praxis: Der „Tunnelblick“ auf die Zeugnisnote

Zwei Berge muss man erklimmen, um als Hochschulabsolvent einen guten Einstiegsjob zu bekommen: Der erste Berg ist die schriftliche Bewerbung, der zweite Berg ist das Vorstellungsgespräch. Um den ersten Berg zu besteigen, muss man seine Vergangenheit dokumentieren, um den zweiten Berg zu erklimmen, muss man in die Zukunft schauen. Und um im Bild zu bleiben, der erste Berg ist umso höher, je schlechter die Zeugnisnote ist. Warum ist das so?

Konzentrieren wir uns zunächst einmal auf den ersten Berg. Mit den Bewerbungsunterlagen bewirbt man sich um die „Eintrittskarte“ für das Vorstellungsgespräch. Angesichts der Vielzahl von Bewerbungen, die täglich beim personalsuchenden Unternehmen eingehen, ist es aber gar nicht so leicht, das gefragte Ticket für das Vorstellungsgespräch zu bekommen. Da spielen nämlich die besonders leicht quantifizierbaren Auswahlkriterien wie Schul- und Examensnoten eine dominierende Rolle. Maßgebend ist hier also der „Tunnelblick“ der Personalreferenten auf die Zeugnisnote.

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Eine strukturierte Analyse der Bewerbungsunterlagen, die zumeist online durchgeführt wird und den anglo-amerikanischen Allerweltsnamen „Screening“ trägt, findet aus Zeitgründen häufig gar nicht statt. Trotzdem soll das Screening erste Anhaltspunkte über die fachliche und persönliche Eignung des Bewerbers liefern. Dem Screening kommt vor allem deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil hier – aus Sicht der suchenden Unternehmen – das größte Einsparungspotenzial im Zuge des häufig sehr zeit- und kostenaufwendigen Personalauswahlprozesses zu finden ist. Wenn man aber – wie einschlägige Untersuchungen belegen – in Betracht zieht, dass für die Hälfte aller Bewerbungen nicht mehr als vier (!) Minuten zur Durchsicht aufgewendet wird, dann verwundert es kaum, dass in diesem „Zeitfenster“ eigentlich nur ein Blick auf zwei Eye-Catcher gerichtet werden kann: auf das Bewerbungsfoto und auf die Note des Bachelor- und/oder Masterabschlusses.

Somit überrascht es nicht, dass immer nur sehr gute Noten als „Eintrittskarte“ zum Vorstellungsgespräch dienen. Das hat allerdings den entscheidenden Nachteil, dass „weiche“ Kriterien wie Persönlichkeit, Kommunika­tionsfähigkeit, Begeisterung und Loyalität oder Motivation und Kreativität, die (erst) im Rahmen des Vorstellungsgesprächs eine Hauptrolle spielen und letztlich die entscheidenden Kriterien für einen „guten“ Kandidaten sind, in der Vorauswahl zwangsläufig unter den Tisch fallen.

Insofern ist der „Tunnelblick“ vieler Personalreferenten (insbesondere von Unternehmensberatungen und Konzernen) auf die Noten vielfach weder gerechtfertigt noch zielführend für das personalsuchende Unternehmen. Natürlich sind (Abschluss-)Noten nicht unwichtig, sie aber als einziges Zulassungskriterium zum persönlichen Vorstellungsgespräch zu missbrauchen, ist häufig kurzsichtig und wenig dienlich, um die richtigen Kandidaten für den ausgeschriebenen Job zu bekommen. Sportliche Bestleistungen, zwei Masterabschlüsse in verschiedenen Bereichen, ein selbstfinanziertes Studium vielleicht sogar über den zweiten Bildungsweg oder berufsbegleitend, ein Engagement als Schul- oder Studierendensprecher, Praktika oder Auslandsaufenthalte, die allesamt vielleicht zu einer etwas schlechteren Durchschnittsnote, aber auch zur Entwicklung der individuellen Persönlichkeit beigetragen haben, sollten den Unternehmen doch mindestens genau so viel Wert sein, wie die Noten mit der „Eins vor dem Komma“. Persönlichkeit kann man nur bedingt lernen, Sprachen oder Mathematik sehr wohl.

Damit sind wir beim zweiten Berg. Im Vorstellungsgespräch wird das Unternehmen versuchen, die Einstellungen, Zielvorstellungen und Werte des Bewerbers kennenzulernen und ggf. offengebliebenen Fragen aus dem Bewerbungsunterlagen nachzugehen. Hier geht es nicht mehr um Zeugnisnoten, sondern vor allem darum, über die offensichtlichen Qualifikationen des Kandidaten wie Ausbildung, Noten, Erfahrung und Wissen hinaus möglichst tief in die Persönlichkeiten und in jene Eigenschaften einzutauchen, die das Unternehmen erst später – also in der Zukunft – zu spüren bekommt.

Es ist sicherlich legitim, dass jedes Unternehmen nur die Besten, also die sogenannten High Potentials einstellen möchte. Doch wer sind die Besten? Und vor allem: Wer sind die Besten für das jeweilige Unternehmen? Und schließlich: Wozu braucht man High Potentials? Heinrich Wottawa vergleicht die High Potentials mit den Condottieri, den italienischen Söldnerführern des späten Mittelalters. Diese wechselten oft die Seiten für bessere Bezahlung und dies nicht nur vor, sondern sogar mitten in der Schlacht. Aufgrund ihres Einflusses, ihrer Macht und sicherlich auch aufgrund ihres Könnens begannen sie, ihren Arbeitgebern die Bedingungen zu diktieren – waren aber dennoch enorm begehrt und in den Augen der jeweiligen Fürsten unverzichtbar.

Soweit wollen wir hier nicht gehen, aber es ist kein Geheimnis, dass manche High Potentials Akzeptanzprobleme bei schwächeren Kollegen und eine „spezielle“ Persönlichkeit haben. Dafür benötigen sie eine besondere Führung, um voll motiviert zu sein. Vor allem wechseln sie aber schnell zum Konkurrenten, wenn dieser ihnen ein besseres finanzielles Angebot macht.

Was ist besser für das Unternehmen? Ein loyaler, begeisterter Mitarbeiter mit gutem Sachverstand oder ein High Potential, der ob seiner geringen emotionalen Bindung ständig mit den Hufen scharrt und dem das nächste attraktive Angebot eines Headhunters herzlich willkommen ist.

Was ist die Lösung? Wenn ein Unternehmen von 100 eingehenden Bewerbungen nur zehn Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einlädt, so gehen die 90 nicht eingeladenen Bewerber dem Unternehmen in aller Regel unwiederbringlich verloren. Also gilt es, mehr Bewerber einzuladen, mehr Bewerbungsgespräche zu führen. Anstatt 10 sollten es vielleicht 15 oder 20 Bewerber sein. Nur in den Vorstellungsgesprächen ist es dem suchenden Unternehmen möglich, neben den in der schriftlichen Bewerbung offensichtlichen Kriterien wie Ausbildung, Noten und Erfahrung hinaus in jene Eigenschaften „einzutauchen“, die für die Zukunft wichtig sind. Dazu zählen u.a. so wichtige Merkmale wie Interessen, Talente, Werte, Gewissenhaftigkeit, Teamorientierung, Intelligenz, Motivation, Loyalität und Lernfähigkeit – kurzum: die Persönlichkeit des Bewerbers. Die Entgegnung, dass dann der Auswahlprozess auch doppelt so teuer wird, kann – ganz abgesehen von der spürbar besseren Qualität der Kandidaten – auch dadurch sehr leicht entkräftet werden, dass der Bewerbungsprozess aufgrund des zunehmenden Wegfalls von kostspieligen Printanzeigen ohnehin deutlich preiswerter geworden ist. Zudem lässt sich solch ein Vorselektionsprozess auch wunderbar outsourcen. Personalberater mit ihrem enormen Erfahrungspotenzial und ihrer Menschenkenntnis stehen zur Genüge vor der Tür.

Mehr dazu mit Beispielen und Grafiken in „Personalmanagement im digitalen Wandel. Die Personalmarketing-Gleichung als prozess- und wertorientierter Handlungsrahmen“, 3. Aufl., De Gruyter Oldenbourg und in „Die Unternehmensberatung. Von der strategischen Konzeption zur praktischen Umsetzung“, 3. Aufl., Springer Gabler.

 

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