Haben wir wirklich einen Fachkräftemangel?

Ja, wenn man die vielen arbeitssuchenden Hochschulabsolventen einmal weglässt. Fachkraft ist nämlich nicht gleich Fachkraft. Gefragt sind insbesondere Kräfte aus dem IT- und ingenieurnahen Umfeld (Stichwort: Digitalisierung) und vor allem aus dem Handwerks- und Pflegebereich. Akademische Fachkräfte aus dem wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Bereich dagegen müssen häufig unzählige Bewerbungen schreiben, um überhaupt die Chance zu einem Vorstellungsgespräch zu bekommen. Grotesk: Aufgrund der Vielzahl von Bewerbungen, die heute auf den Tischen der Recruiter landen, schalten Unternehmen sogar Beratungsfirmen ein, die sich auf Employer Branding spezialisiert haben und ihren Kunden versprechen, deren Arbeitgeberprofil so zu schärfen, dass künftig auf eine offene Stelle nicht mehr 200 (!), sondern nur noch 100 (!) Bewerber kommen. Und wenn unsere Jungakademiker schließlich – oftmals nach monatelanger Suche – einen Job gefunden haben, dann müssen sie in vielen Fällen Sachbearbeiteraufgaben übernehmen, für die früher ein ausgebildeter Industriekaufmann mit mittlerer Reife zuständig war.

Ein Großteil der Studienanfänger, deren Anzahl in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist, drängt in wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Studiengänge und will Betriebswirt, Volkswirt oder Sozialwirt werden. Heute sind es in Deutschland knapp drei Millionen Studierende, von denen wiederum (als größte Gruppe) die Wirtschafts­wissenschafter (angehende Betriebswirte, Volkswirte, Wirtschaftsingenieure, Wirtschaftsinformatiker) ein Sechstel, also rund eine halbe Million ausmachen. Und diese knapp 500.000 Studierende drängen sukzessive in den Arbeitsmarkt.

„Der Boom bei den Studentenzahlen geht zulasten der dualen Berufsausbildung. Wir leiden an einer Über­akademisierung“, so der heutige DIHK-Ehrenpräsident Eric Schweitzer.

Dieser Effekt wird auch noch dadurch verstärkt, dass viele tausend Bachelor- und Master-Studierende, die berufsbegleitend, also nach Feierabend ihre Freizeit opfern, um sich „employable“ (beschäftigungsfähig) für eine neue Bewerbung zu machen, ebenfalls in diesen dritten Arbeitsmarkt eintreten.

Handwerksbetriebe und technisch ausgerichtete Klein- und Mittelunternehmen suchen händeringend nach praktisch ausgebildeten Nachwuchskräften. Groß- und Mittelunternehmen können sich dagegen der Bewerberflut in kaufmännischen Bereichen kaum erwehren. Es ist schon absurd, wenn sich diejenigen jungen Menschen mit der vermeintlich höheren Ausbildungsstufe auf dem Arbeitsmarkt hintenanstellen müssen, wo hingegen praktisch ausgebildete Fachkräfte mit Kusshand genommen werden.

Sicherlich muss man den Akademikerwahn ein wenig relativieren, denn Hochschulabsolventen der so genannten MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) fehlen uns allenthalben. Aber die Bologna-Reform hat innerhalb weniger Jahre eine enorme Vielfalt an Bachelor- und Masterstudiengängen hervorgebracht, die allein in der wirtschaftswissenschaftlichen Fächergruppe zu einem ausdifferenzierten Angebot von über 2.500 (!) Studiengängen geführt hat. Da ein solches Angebot bedient werden will, legt es die Vermutung nahe, dass damit ein ernstzunehmender Teil der jungen Menschen den praktischen Berufen entzogen wird, nur um dem akademischen Trend zu folgen.

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